„Ich sehe junge Menschen wachsen“
Gabriele Kaiser, Jobcoach an der Goethe‑Gemeinschaftsschule Kiel, im Gespräch mit der Redaktion über die langfristige Begleitung von Schülern, individuelle Förderung und den Mut, jungen Menschen realistische Wege aufzuzeigen.
Frau Kaiser, Sie sind seit drei Jahren Jobcoach an der Goethe-Gemeinschaftsschule Kiel. Welche Position haben Sie dort und wie grenzt sich diese von der Arbeit der Lehrkräfte ab?
Ich arbeite eng mit Schülerinnen und Schülern, die im Bereich Berufsorientierung wenig Unterstützung von zu Hause bekommen oder diese auch verweigern. Sowie Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte, denen das deutsche Bildungssystem fremd ist. Ich sehe mich nicht als Konkurrenz zu Lehrkräften, sondern als Ergänzung in Einzelgesprächen. Dort, wo sich individuelle Fragen ergeben, setze ich an: bei der Frage nach einem passenden Schulabschluss, einer Ausbildung, einem FSJ, dem freiwilligen Handwerks Jahr oder der Suche nach einem Praktikumsplatz.
Sie sagten im Vorjahr, Ihre Arbeit sei ‚privilegiert und erfüllend‘. Ist das noch immer so?
Absolut. Vieles, was ich mit den Schülerinnen und Schülern bespreche, kommt erst nach Jahren wirklich an. Sie brauchen oft Zeit, um zu verstehen, was zu ihnen passt. Ich beobachte deshalb gerne, wie sich langsam Türen öffnen – das motiviert mich sehr.
Weshalb dauert es oft so lange, bis das Coaching greift?
Weil viele mit Erwartungen ihrer Herkunftsfamilien zu uns kommen. ‚Du musst studieren!‘ – das ist oft die Parole. Aber wer zuhause bei Nachhilfe und durchschnittlichen Noten seinen ESA/MSA gerade so schafft, braucht vielleicht eine Alternative: eine Ausbildung, in der sie ihre Stärken – soziale Kompetenz, handwerkliches Geschick – zeigen können. Solche Perspektivwechsel sind nicht leicht – und brauchen Zeit.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Ich hatte einen jungen Mann vor mir, der sehr passiv und schweigsam war. Irgendwann habe ich begriffen, er wollte sich einfach sehr cool geben. Ich wusste aber, dass er gern Fußball spielt, also habe ich, um erstmal den Kontakt herzustellen, nach seinem schönsten Fußballmoment gefragt. Und dann gab es plötzlich diesen Klick – er stand auf und erzählte lebhaft und völlig anders. Er hat erkannt, dass er mehr kann, als er dachte. Solche Momente sind unbezahlbar – wenn jemand sich selbst neu sieht. Und dann gehen wir gemeinsam Bewerbungen an – ehrlich, gut formuliert und wirklich passend.
Welche Hürden begegnen Ihnen gerade beim Thema Bewerbung?
Oft fehlt grundlegende Vorbereitung: E-Mail-Adressen wie ‚zerobrain@…‘ oder schlecht strukturierte Lebensläufe. Wenn Schülerinnen und Schüler engagiert sind, setzen wir uns hin – auch mal drei Stunden –, um ein vollständiges Anschreiben zu erstellen. Und es wirkt: Viele erhalten daraufhin Einladungen oder Praktikumsplätze.
Wie verläuft die Zusammenarbeit mit den Lehrkräften und dem Kollegium?
Sehr gut. Über die Jahre baut sich Vertrauen auf: Wenn Schüler sehen, dass andere bei mir Hilfe erhalten und erfolgreich werden, sprechen sie mich direkt an. Lehrkräfte empfehlen mich weiter und die Kooperation funktioniert hervorragend. Das ist der Kern: ein sich entwickelndes Netzwerk aus individueller Beratung, Vertrauen und Schule.
Sie wünschen sich eine feste Stellung Ihres Jobs. Warum?
Weil der Bedarf da ist. Klar, Projektförderung ‚YOURJOB‘ wird jährlich neu verhandelt – derzeit läuft die Förderrunde der Stadt Kiel für 2026. Aber nur stabile, institutionalisierte Stellen ermöglichen Kontinuität. Wenn jede Schule einen Jobcoach hätte, könnten langfristig nachhaltige Veränderungen erreicht werden.
Wie erleben Sie den Bedarf in der Schülerschaft konkret?
Häufig kommen die Schülerinnen und Schüler, die ihre berufliche Zukunft planen, viel zu spät zu mir. Da gilt es kreativ und flexibel einen Plan B zu entwickeln.
Wie erleben Sie die Generation der jungen Menschen heute?
Manche Schülerinnen und Schüler starten frei und unbedarft in das Berufsleben. Andererseits stehen die jungen Menschen vor der Herausforderung, ein berufliches Fundament zu errichten, das tragfähig ist und auch bleibt und offen ist für die persönliche Entwicklung.
Wie sehen Sie die Rolle von Betrieben in diesem Prozess?
Gerade im Übergang zu Ausbildungsstellen gibt es Defizite wie z. B. mangelnde Ausbildungsreife, Durchhaltevermögen, Kritikfähigkeit oder auch ein respektvoller Umgang untereinander. Dies ist für manche Betriebe sicherlich auch eine Herausforderung. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels wünsche ich mir, dass sich mehr Betriebe der gesellschaftlichen Herausforderung stellen. Bewerbungsverfahren können meiner Meinung nach deutlich vereinfacht werden.
Was treibt Sie persönlich an?
Pure Freude und Glück, wenn Schülerinnen und Schüler erkennen, was sie können. Dies ist mein Ziel! Ich sehe mich als Schatzsucherin, die hilft Talente zu heben und Orientierung zu geben. Wenn Schüler und Schülerinnen berichten ‚Jetzt habe ich das Gefühl etwas zu können‘ oder ‚Jetzt weiß ich warum es notwendig ist schnell deutsch zu lernen‘, das ist für mich das wahre Erfolgserlebnis.
Welche Botschaft haben Sie mit Blick auf Ausbildung und Berufsfindung?
Habt Plan B und seid ehrlich zu euch selbst – bei Berufswahl, Bewerbungen und Erwartungen. Bildet euch die Fähigkeit, sagen zu können, ‚das kann ich‘, ‚da muss ich dran arbeiten‘. Und: Wer eine Ausbildung beginnt, sollte sie auch durchhalten – erst auf dieser Basis könnt ihr später wirklich frei agieren.
Fazit: Die Arbeit von Frau Kaiser ist geprägt von langfristiger Begleitung, individueller Förderung und dem Mut, jungen Menschen realistische Wege aufzuzeigen – auch wenn sie nicht den klassischen Erwartungen entsprechen. Mehr Coachingstellen an Schulen könnten Talente entdecken, die aktuell oft übersehen bleiben – und echte Perspektiven schaffen.
TEXT Morgana Pfeifer Schridde
FOTO Henrik Matzen
So geht Berufsorientierung
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